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Beitrag vom 30.01.2011
Poll
Tatjana Zilg
Chris Kraus, Regisseur des Erfolgsfilms "Vier Minuten", überrascht mit einem historischen Melodram, das an der Lebensgeschichte der Dichterin Oda Schaefer angelehnt ist und mit seiner ...
... kompositorisch meisterhaft angelegten Bilderwucht von Beginn an tief in seinen Bann zieht.
Geheimnisvoll, innerlich bedrohlich und äußerlich magisch schön ist die Welt, die die 14jährige Oda von Siering (spätere Schaefer, gespielt von Paula Beer) auf dem baltischen Gut Poll vorfindet, als sie von Berlin nach dem Tod ihrer Mutter nach Estland zieht. Ihr Vater Ebbo (Edgar Selge) lebt dort mit seiner neuen Frau Milla (Jeanette Hain) und deren Sohn Paul (Enno Trebs), der als junger Kadett bei der russischen Armee dient. Im Juni 1914, kurz vor dem Ausbruch des I. Weltkriegs, akzeptieren sich russische und baltendeutsche EinwohnerInnen noch, ab und an feiern sie ausgelassen miteinander währenddessen die estnische Bevölkerung unterdrückt wird.
So ist die erste Szene des Filmes eine des Todes, über welchen die Beteiligten kein großes Aufheben machen. Russische Reiter nähern sich dem auf Stelzen im Meer gebauten und eine düstere Stimmung ausstrahlenden Haupthaus des Gutes. Sie werfen Leichen ab, die Ebbo merkwürdig erfreut im Empfang nimmt. Nach der Überblendung zur Ankunft Odas, die mitsamt dem Sarg ihrer Mutter per Kutsche eintrifft, verändert sich die Stimmung für einen kurzen Moment. Zärtlich begrüßt ihr Vater sie, dann wird auch diese Szene zerrissen durch Gewalt und Todesnähe, als der Sarg auf den Verwalter Mechmershausen schlittert und ihn schwer verletzt. Der Vater bleibt seltsam distanziert, aber flickt seinen Angestellten später auf dem Küchentisch wieder zusammen.
Abgründe der Vaterfigur
Chris Kraus entschied sich während des Filmschnitts für eine Off-Stimme durch Oda und so schildert sie ihre Ankunft in poetisch mitreißender Sprache und führt mit sanfter Gewalt an den furchterregenden Beruf ihres Vaters heran: Erst bezeichnet sie ihn als Künstler, in Wirklichkeit ist er Mediziner, längst ausgeschlossen aus anerkannten Fachkreisen: Er schneidet gekaufte Leichen auf, um das menschliche Gehirn zu erforschen und ein fadenscheiniges Fundament zur "Rassenkunde" zu legen, die zur "Begründung" für die Nazi-Verbrechen herangezogen und später als wissenschaftlich falsch und irrelevant belegt wurde. Oda versteht zunächst mit kindlicher Naivität und Neugier nicht, worauf die akribischen "Forschungen" ihres Vaters hinauslaufen, bewundert ihn und lässt sich sogar an manchen Tagen in die Technik einweihen. Das Einleben auf dem Gut fällt ihr nicht leicht, die Trauer um die Mutter wiegt schwer.
Paul sucht ihre Nähe, ganz anders in der Art als sie, weniger intelligent, eher ungelenk und knabenhaft verspielt, weist Oda ihn aber ab. Zur Stiefmutter ergeben sich nach kurzem anfänglichen gegenseitigen Misstrauen Anfangspunkte für eine gute Beziehung, verhindert jedoch durch eine heftige Krise zwischen Ebbo und Milla, als deren Daueraffäre mit dem Verwalter Mechmershausen offenkundig wird.
Spontaner Ausbruch aus dem vorgegebenen Lebensverlauf
Der Weg der jungen Oda, aus diesen Vorbedingungen auszubrechen, zu sich selbst zu finden, Haltung zu gewinnen und sehr persönliche erste Schritte zu einem inneren und äußeren Widerstand zu gehen, sind die großen Themen von "Poll", umgesetzt in der Verbindung einer Vater-Tochter-Geschichte, die wie ein zentrierter Ausschnitt aus einer Familiensaga wirkt, und einer Liebesgeschichte, die der emotionalen Dichte von Romeo und Julia Konkurrenz macht.
Eines Nachmittags entdeckt Oda in einem etwas abgelegenen, verfallenen Lagerhaus einen schwer verletzten Esten (selbst gewähltes Pseudonym "Schnaps", gespielt von Tambet Tuisk). Sie verspricht, ihn während seiner Genesung zu versorgen, obwohl er sich als gesuchter estnischer Anarchist offenbart und ihr bewusst ist, dass ihre Familie außer sich sein würde, wenn sie von ihrem Bündnis mit dem Versteckten erfahren würde. Nachmittage mit zartem Umsorgen, langen und gehaltvollen Gesprächen und exklusivem Theaterspiel und Tanz zu zweit folgen, bis die Ereignisse in einem hochtragischen Showdown enden. In dessen Verlauf wird auch das Grauen der Anfangsszenen aus einem differenzierteren Blickwinkel neu aufgewühlt und Gefühle der Trauer, Wut, Ärger und Rebellion gegen diesen verachtenden Umgang mit Menschen transzendieren von der Leinwand in die Seele des Kinopublikums. Denn Chris Kraus und seinem hervorragenden Filmteam gelang es jede Sekunde glaubhaft, intensiv und tiefgründig, zugleich unterhaltsam und spannend zu gestalten.
"Subjektive Genauigkeit" als Qualitätsmerkmal für den historischen Film
Der Regisseur selbst spricht von einer "subjektiven Genauigkeit", gefragt nach der Bedeutung von Detailtreue bei der Produktion historischer Filme: "Ganz banal gesagt: So genau wie möglich. Aber Genauigkeit hat beim Film sehr viel mit Subjektivität zu tun. Wer einen historischen Film macht, muß zumindest die Zeit ernst nehmen, in der dieser Film spielt. Die Zeit muß glaubhaft, in sich konsistent sein. Dafür brauche ich Genauigkeit. Gar nicht mal objektive Genauigkeit, subjektive Genauigkeit reicht. ... Niemand weiß, wie es damals wirklich gewesen ist. Du hast Kostüme, Gesten, Bauten, die du alle nicht mehr an der Gegenwart prüfen kannst, du hast eine künstliche Spielfilmhandlung, der sich die Fakten an irgendwelchen Stellen unterwerfen müssen. Also muß man, um kein Karnevalsgefühl aufkommen zu lassen, ganz subjektiv Behauptungen aufstellen, wo man erklärt: Ab hier, ab diesem Punkt, ziehen wir eine Linie. Ab hier gilt das Gesetz der totalen Penibilität." (Quelle: Presseinfo Piffl Medien)
Dieses Konzept geht gut auf, frau fühlt sich unmittelbar versetzt in eine Zeit, die fast hundert Jahre zurückliegt, jedoch ohne den Aufbau einer inneren Distanz. Vielmehr fällt die Identifikation mit den Charakteren leicht und das mit dem Bayerischen Filmpreis 2010 prämierte Szenenbild von Silke Buhr entwickelt schnell eine Sogwirkung, die Zeitbegrenzungen vergessen lässt.
Die Horrorfilm-angehauchte Geschichte um den Vater mit seinem verdeckt grausamen Beruf und die tragische Intensität der Begegnung mit dem Anarchisten verwundern, solange frau davon ausgeht, dass es sich um tatsächliche Erlebnisse aus der Biografie von Oda Schaefer handelt.
Bei genauerem Erkunden ist zu erfahren, dass auch hier subjektive Verfremdungen vorgenommen wurden: Der Vater war ein Journalist, keinesfalls selbst forschender Rassenkundler, aber überzeugter Nationalsozialist wie auch der Großteil der Familie von Oda Schaefer. Der Vater beging nach Kriegsende 1918 Selbstmord, andere Familienmitglieder waren später, im "Dritten Reich", regimetreu. Die wahre Oda Schaefer distanzierte sich früh von ihrer Familie, studierte Malerei, Gebrauchsgraphik und Literatur, heiratete den Maler Albert Schaefer-Ast, nach der Scheidung den Schriftsteller Horst Lange und überlebte die Nazi-Zeit in Gegnerschaft zum Regime und "innerer Emigration". Der wahre Kern der Geschichte liegt darin, dass Oda Schaefer als Teenager einige Wochen auf dem Gut Poll verbracht hat und über die Erlebnisse dieser Zeit in ihrer Autobiografie "Auch wenn du träumst, gehen die Uhren" geschrieben hat. Sie ist zudem eine Verwandte von Chris Kraus, von der er erst während seines Geschichtsstudiums per Zufall erfuhr, da sie in der Familie als Außenseiterin behandelt wurde.
Chris Kraus: "Was vor allem abweicht, was absolut erfunden ist, ist eigentlich das Herz der Liebesgeschichte, also die Geschichte von Schnaps. Oda Schaefer hat in ihren Erinnerungen über die Zeit in Poll eine Leerstelle gelassen. In dieser sehr romantisch gefärbten Autobiographie der Autorin war der Eros des Sommers 1914 nur angedeutet. Den habe ich mit der Einführung von Schnaps vervielfacht, natürlich wurde damit auch die Dramatik des Geschehens vervielfacht. Diese Figur war zusätzlich eine günstige Gelegenheit, eine Motivation für die sozialistische Weltanschauung anzubieten, für die Oda Schaefer Zeit ihres Lebens empfänglich blieb. Obwohl sie nie ein wirklich politischer Mensch war. Dazu war sie viel zu versponnen, auch zu selbstbezogen, in jeder Hinsicht eine Ästhetin. Sie hat meines Wissens nie einen dezidiert politischen Text geschrieben." (Quelle: Presseinfo Piffl Medien)
"Poll" erhielt bereits etliche Auszeichnungen: Beim Internationalen Filmfestival Rom 2010 den Spezialpreis der Jury (Beste Regie, beste Filmmusik), drei der Bayerischen Filmpreise 2010 (Edgar Selge, Paula Beer, Schauspiel, Silke Buhr, Szenebild), beim Tallinn Black Nights Film Festival 2010 die Beste Regie und die Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW) vergab das Prädikat Besonders wertvoll.
AVIVA-Tipp: Der Film fesselt und lässt 133 Minuten lang die Aufmerksamkeit nicht mehr los, geschickt laufen die Handlungsfäden auseinander und verflechten sich wieder. Das aufrüttelnde Ende stiftet zum eindringlichen Nachdenken über Klassenunterschiede und Klassenkampf, HeldInnentum, Wagemut und Mut an und entfacht den Gerechtigkeitssinn neu in den Herzen. Ein Nachteil ist, dass fiktive und wahre Anteile nicht klar erkennbar ineinander verfließen, welches teils für Verwirrung sorgt. Die Vorstellung, ein Mensch hätte real genau wie Ebbo gehandelt und gearbeitet, ist allzu beängstigend.
Ursprünglich plante Chris Kraus Schlussszenen, in denen Oda Schaefer im Alter auf diese Jugendphase zurückblickt, dies fiel leider beim Schnitt weg. Schade, denn so wäre die wahre Person der Oda Schaefer greifbarer geworden.
Poll
Deutschland, Österreich, Estland 2010
Buch und Regie: Chris Kraus
DarstellerInnen: Paula Beer, Edgar Selge, Tambet Tuisk, Jeanette Hain, Richy Müller
Szenenbild: Silke Buhr
Kamera: Daniela Knapp
ProduzentInnen: Alexandra Kordes, Meike Kordes
Lauflänge: 133 Minuten
Verleih: Piffl Medien
Filmstart: 03.02.2011
Weitere Infos finden Sie unter:
www.poll-derfilm.de